Prolog
Die Luft in der Olympia-Eisarena war erfüllt von Spannung. Tausende Zuschauer verfolgten gebannt, wie Park Ji-hoon, Südkoreas Hoffnung auf Gold, die Eisfläche betrat. Sein Name hallte durch die Lautsprecher, begleitet von tosendem Applaus. Doch Ji-hoon hörte nichts davon. Sein Fokus lag einzig und allein auf der Kür, die er in den letzten Monaten bis zur Perfektion trainiert hatte.
Die Musik begann – eine kraftvolle Interpretation von Tschaikowskys Schwanensee. Ji-hoons Bewegungen waren fließend, seine Sprünge präzise. Das Publikum war wie hypnotisiert von der Eleganz und Kraft seiner Performance. Doch tief in seinem Inneren nagte ein Hauch von Unsicherheit. Die Erwartungen waren erdrückend – nicht nur die seines Landes, sondern auch seine eigenen. Dann kam der Moment: die schwierigste Kombination seiner Kür. Ein vierfacher Lutz, gefolgt von einem dreifachen Toeloop. Er hatte sie unzählige Male im Training gemeistert. Doch diesmal fühlte sich etwas anders an. Der Absprung war nicht perfekt, ein winziger Fehler – kaum sichtbar für das Auge eines Laien – brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
In der nächsten Sekunde krachte Ji-hoon hart auf das Eis. Der Aufprall raubte ihm den Atem, und ein stechender Schmerz schoss durch sein rechtes Knie. Die Arena verstummte augenblicklich. Alles, was Ji-hoon hören konnte, war das Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren. Er blieb liegen, unfähig sich zu bewegen, während die Realität ihn mit voller Wucht traf: Seine Olympischen Spiele waren vorbei. Sein Traum von Gold oder war zerbrochen – zusammen mit dem Selbstvertrauen, das ihn einst so unerschütterlich gemacht hatte. Als Sanitäter ihn vorsichtig auf eine Trage hoben und ihn von der Eisfläche trugen, wagte Ji-hoon einen letzten Blick zurück. Die glitzernde Eisbahn verschwamm vor seinen Augen, und ein Gedanke brannte sich in sein Bewusstsein: Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr laufen kann?
»Hey, are you okay?«, hörte Jihoon irgendwo von der Seite jemanden fragen. Durch all die vielen internationalen Wettkämpfe und Trainingslager war sein Englisch ziemlich solide. Doch in genau diesem Moment verstand er diese Frage nicht.
Ji-hoon blinzelte benommen, die Stimme klang wie aus weiter Ferne. Die Welt um ihn herum war verschwommen, ein Wirbel aus Farben und undeutlichen Formen. Der Schmerz in seinem Knie pulsierte im Rhythmus seines rasenden Herzschlags.
»Hey, can you hear me? Do you need help?« Die Stimme wurde deutlicher, dringlicher.
Ji-hoon versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, aber sein Verstand weigerte sich, ihren Sinn zu erfassen. In seinem Kopf hallten immer noch die letzten Takte der Musik nach, vermischt mit dem dumpfen Geräusch seines Aufpralls auf dem Eis.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte zusammen. Langsam drehte er den Kopf und sah in das besorgte Gesicht eines Sanitäters. Der Mann bewegte die Lippen, aber Ji-hoon konnte die Worte nicht verstehen. Es war, als hätte sein Gehirn jede Fähigkeit zur Kommunikation ausgeschaltet, um sich vor der Realität des Geschehenen zu schützen.
»Ich verstehe nicht«, murmelte Ji-hoon auf Koreanisch, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Der Sanitäter nickte verständnisvoll und rief etwas über seine Schulter. Momente später tauchte ein Übersetzer auf, der sich neben Ji-hoon kniete.
»Athlet Park Ji-hoon, geht es Ihnen gut?«, fragte der Übersetzer sanft.
Die vertrauten Laute seiner Muttersprache durchbrachen endlich den Nebel in Ji-hoons Kopf. Die Realität seiner Situation traf ihn mit voller Wucht. Er war gestürzt. Bei den Olympischen Spielen. Er hatte versagt. Vor den Augen der ganzen Welt.
»Nein«, antwortete er leise, Tränen stiegen ihm in die Augen. »Nichts ist in Ordnung.«
Während die Sanitäter ihn vorsichtig auf eine Trage hoben, starrte Ji-hoon an die Decke der Arena. Die gleißenden Lichter verschwammen vor seinen Augen, und für einen Moment glaubte er, die Sterne zu sehen – so unerreichbar wie seine zerplatzten Träume.
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte sein Couch später zu ihm, als dieser ein wenig atemlos in das Krankenhauszimmer hinein kam, in das man Jihoon gebracht hatte. »Aber du weißt schon die Presse...«
Jihoon winkte ab, sein Blick starr auf die weiße Wand gegenüber gerichtet. Die Worte seines Coaches drangen kaum zu ihm durch. In seinem Kopf spielte sich immer wieder der Moment des Sturzes ab, wie ein grausamer Film auf Endlosschleife.
»Wie fühlst du dich?«, fragte der Coach vorsichtig und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
Ji-hoon zuckte mit den Schultern, eine Geste, die ihm sofort einen stechenden Schmerz durch den Körper jagte. Er verzog das Gesicht. »Wie jemand, der gerade vor der ganzen Welt versagt hat«, murmelte er bitter.
Der Coach seufzte tief. »Ji-hoon, du hast nicht versagt. Es war ein Unfall. Solche Dinge passieren im Sport, selbst auf höchstem Niveau.«
Aber Ji-hoon hörte nicht wirklich zu. In seinem Inneren tobte ein Sturm aus Scham, Wut und Verzweiflung. »Aber nicht mir!«, rief er wütend.
Ji-hoon spürte, wie die Wut in ihm hochkochte, eine Emotion, die er sonst so selten zuließ. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Knöchel traten weiß hervor. Der Schmerz in seinem Körper war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in seiner Seele.
»Nicht mir«, wiederholte er, diesmal leiser, aber mit einer Intensität, die den Raum zu erfüllen schien. »Ich habe jahrelang trainiert, jede wache Minute diesem Moment gewidmet. Und jetzt... jetzt ist alles umsonst!«
Der Coach beugte sich vor. »Ji-hoon, hör mir zu. Es ist nicht umsonst. Du bist immer noch einer der besten Eiskunstläufer der Welt. Das ändert ein Sturz nicht.«
»Es ändert alles!« Ji-hoon spürte, wie die Worte wie ein wütender Schrei aus ihm herausbrachen, als könnte er damit die Realität verändern.
Der Coach sah ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Entschlossenheit an, und für einen Moment fühlte Ji-hoon sich wie ein kleines Kind, das um seine Träume kämpfte.
»Ji-hoon, schau dir die Fakten an«, sagte der Coach ruhig. »Du hast einen Rückschlag erlitten, ja. Aber das bedeutet nicht, dass deine Karriere vorbei ist. Du bist talentiert, du hast das Potenzial, zurückzukommen und stärker zu sein als je zuvor.«
»Stärker?« wiederholte Ji-hoon, seine Stimme klang hohl. »Wie kann ich stärker sein, wenn ich nicht einmal aufstehen kann? Wenn ich nicht einmal auf das Eis gehen kann, ohne an den Sturz zu denken?«
Er wandte den Blick ab und starrte auf seine Hände, die immer noch zitterten. Erinnerungen an den Moment des Falls überfluteten ihn: der Aufprall, der Schmerz, die Schreie des Publikums. Es war, als würde er in einem Albtraum gefangen sein, aus dem es kein Entkommen gab.
»Du bist nicht allein in diesem Kampf«, erinnerte der Coach ihn. »Jeder Athlet hat Rückschläge erlebt. Du bist nicht der erste und wirst nicht der letzte sein. Es ist die Art und Weise, wie du darauf reagierst, die zählt.«
Ji-hoon schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Sein Coach hatte recht – er hatte Geschichten von anderen Athleten gehört, die nach schweren Verletzungen zurückgekehrt waren. Aber das waren immer nur Geschichten für ihn gewesen. Jetzt war er selbst Teil dieser Erzählung geworden.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, murmelte er schließlich und öffnete die Augen wieder. »Ich habe Angst.«
»Das ist normal«, erwiderte der Coach. »Angst ist menschlich. Aber du musst lernen, mit dieser Angst umzugehen. Lass sie nicht dein Leben bestimmen.«
Ji-hoon nickte langsam, obwohl er sich innerlich immer noch unentschlossen fühlte. Es war leicht für den Coach zu reden; er hatte nie in Ji-hoons Schuhen gesteckt. Der Druck war enorm – nicht nur von außen, sondern auch von ihm selbst.
»Was ist mit dem Training?«, fragte Ji-hoon leise. »Wie soll ich wieder anfangen?«
»Schritt für Schritt«, antwortete der Coach mit einem aufmunternden Lächeln. »Es gibt in Deutschland ein hervorragendes Physiozentrum, wo ich dich vorstellen möchte.«
Jihoon glaubte, sich verhört zu haben. »In Deutschland? Wieso das denn?«
Der Coach lehnte sich zurück und betrachtete Ji-hoon aufmerksam. »In Deutschland hättest du die Chance, dich in Ruhe zu erholen und zu trainieren, ohne den ständigen Druck der Medien und der Öffentlichkeit hier in Korea.«
Ji-hoon runzelte die Stirn. Die Idee, sein Heimatland zu verlassen, hatte er bisher nicht in Betracht gezogen. »Aber... meine Familie, mein Team...«
»Sie werden verstehen, dass du diese Zeit brauchst«, erklärte der Coach sanft. »Außerdem ist es nur vorübergehend. Das Zentrum in Deutschland hat einen exzellenten Ruf in der Rehabilitation von Spitzensportlern. Sie haben modernste Einrichtungen und ein Team von Experten, die sich auf Fälle wie deinen spezialisiert haben.«
Ji-hoon schwieg einen Moment und ließ die Information sacken. Ein Teil von ihm war versucht, sofort abzulehnen. Korea war sein Zuhause, sein Anker. Aber ein anderer Teil – der Teil, der sich vor den erwartungsvollen Blicken und dem Flüstern hinter seinem Rücken fürchtete – fand die Idee verlockend.
»Würde ich... würde ich dort auch aufs Eis gehen?«, fragte er zögernd.
Der Coach nickte. »Wenn du bereit bist, ja. Sie haben eine erstklassige Eishalle, aber sie werden dich nicht drängen. Du bestimmst das Tempo deiner Genesung.«
Ji-hoon starrte auf seine Hände, die immer noch leicht zitterten. Die Vorstellung, wieder Schlittschuhe anzuziehen, löste ein Gemisch aus Angst und Sehnsucht in ihm aus. »Ich weiß nicht...«, murmelte er.
»Du musst dich nicht sofort entscheiden«, sagte der Coach beruhigend. »Denk darüber nach. Sprich mit deiner Familie. Aber bedenke: Manchmal braucht man Abstand, um einen klaren Kopf zu bekommen und neue Kraft zu schöpfen.«
Ji-hoon nickte langsam. Die Idee, nach Deutschland zu gehen, fühlte sich gleichzeitig beängstigend und befreiend an. Weg von den erwartungsvollen Blicken, weg von den Erinnerungen an seinen Sturz, die an jeder Ecke zu lauern schienen. Vielleicht war es genau das, was er brauchte – ein Neuanfang, weit weg von allem, was ihn hier festhielt.