Kapitel 1 - Der Fremde
Es ist jeden Tag dasselbe, man kann die Uhr danach stellen - pünktlich um 11:50 Uhr legen die ersten in unserem Großraumbüro ihre Stifte nieder, klappen ihre Laptops zu und beginnen angeregte Gespräche, die während der Arbeitszeit auf das minimalste reduziert werden, um den Abteilungsleitern keinen Grund zu geben, sich aufzuregen.
Um 11:55 Uhr ist dann deutlich zu hören, wie die ersten Bürostühle sich mit einem eintönigen Rollen von den Schreibtischen entfernen, einige der Kollegen sich erheben und schonmal ihre Taschen, Essenskarten und die bereits mit einem Feuerzeug versehenen Zigarettenpäckchen zur Hand nehmen, und wie sich zu den aufgeweckten Unterhaltungen gut gelauntes Gelächter, oder schlecht gelauntes Genörgel mischt.
Dann, um Punkt 12:00 Uhr, ist es endlich so weit - wie ein Schwarm Ameisen bilden sich lange Straßen aus den vielen aneinandergereihten Büros heraus, die in verschiedene Gebäudekomplexe führenden Korridore entlang, bis hin zu den breit gebauten Treppen oder den modernen, für acht Personen zugelassenen Fahrstühlen.
Wie immer laufe ich auf denselben Fahrstuhl zu, um mit ihm ins Erdgeschoss zu fahren und das Gebäude durch den großen Haupteingang zu verlassen. Oft begleitet mich meine Lieblingskollegin Mia, die sich aber krank gemeldet hat und mit einer hartnäckigen Krippe im Home Office verweilt.
Normalerweise kreuzen jeden Mittag dieselben Gesichter meinen Weg, doch da ich spät dran bin, ist der Korridor wie leer gefegt. Meine Michael Kors-Handtasche über meiner Schulter tragend, laufe ich den warm beleuchteten Gang entlang, dessen Wände mit atemberaubenden Gemälden großer Künstler dieser Zeit geschmückt sind, Werke von Armin Mueller-Stahl, Karoline Kroiß oder Mechtild van Ahlers, als plötzlich ein mir unbekannter Mann um die Ecke biegt. Er ist groß, schlank, besitzt genau wie ich, dunkelblondes Haar und trägt eine kugelrunde Brille auf der Nase, die ihn äußerst klug, aber auch ein wenig spitzbübisch aussehen lässt. Gehüllt in eine dunkle Hose und in ein helles Hemd, endet sein Weg, wie auch meiner, am Fahrstuhl. Die Augen schüchtern niedergeschlagen, strecke ich meinen Finger nach dem Anholknopf aus, blicke jedoch auf, als die große Hand des Fremden, die meine berührt. Verlegen sehe ich den Mann, den ich auf Ende Zwanzig schätze, an - er lächelt sympathisch.
,,Hallo’’, sagt er freundlich.
,,Hallo’’, wiederhole ich und lächle zurück.
Kaum bleibt der Fahrstuhl stehen, öffnet er sich auch schon und präsentiert weitere Mitarbeiter einer anderen Etage. Wir steigen ein, der Fremde rechts neben die bereits anwesende und sich unterhaltende Gruppe, und ich links.
Im Erdgeschoss angekommen schlüpfe ich als erste aus der Tür - die Pause ist nicht mehr lang und ich möchte wie jeden Tag meinen Karamell-Kaffee im Park genießen, mit der wunderschönen Aussicht auf den Main.
Eine Weile denke ich noch an den attraktiven Fremden, bis ich lächelnd den Kopf schüttle und mich ganz den zarten Sonnenstrahlen des Spätsommers hingebe.