Kapitel 1
Wie jeden morgen machte ich mich fertig für die Schule und brauchte zu lange im Bad.
„Lottie beeil dich, du musst gleich los!“, rief meine Mutter und klopfte gegen die Badezimmertür.
„Bin gleich fertig“, gab ich zurück und richtete noch schnell meinen Zopf. Meine hellblonden Haare waren mittlerweile fast hüftlang, weshalb ich sie mir meistens hochband. Abschneiden war keine Option, dafür hing ich zu sehr an ihnen. Mit meinen stechend grünen Augen und der leicht gebräunten Haut, stach ich meistens aus der Menge hervor. Was mir ehrlich gesagt ziemlich auf den Wecker ging. Ich versuchte, so gut es ging unter dem Radar zu bleiben. Ich mochte es einfach nicht, im Mittelpunkt zu stehen.
Es war nur logisch, dass ich nicht gerade beliebt an meiner Schule war. Ich hatte eigentlich nur zwei richtig gute Freundinnen, doch das reichte mir vollkommen aus. Wir waren uns sehr ähnlich und gaben nicht viel auf den gängigen Tratsch der Schule, wir hielten uns lieber aus Allem heraus. Das klappte meistens auch ganz gut.
Ich verließ das Bad und setzte mich an den Tisch zu meinen Eltern. Normalerweise bekam ich morgens nichts herunter, aber heute hatte ich komischerweise tierischen Hunger. Ich machte mir mehrere Scheiben Toast und trank einen Kaffee. Meine Eltern musterten mich irritiert, doch ich zuckte nur mit den Schultern.
„Vielleicht hast du einen Wachstumsschub“, lachte meine Mutter und ich verdrehte die Augen. Ich war mit meinen 1,65 eigentlich ziemlich im Durchschnitt würde ich sagen. Meine Eltern hingegen waren beide ziemlich groß gewachsen, also hatten sie vielleicht sogar recht.
Die nächsten Wochen verliefen ziemlich merkwürdig. Ich hatte mittlerweile einen so großen Appetit, dass meine Eltern mich schon zum Arzt schicken wollten. Ich weigerte aber und redete mir ein, dass es normal sei. Ich aß teilweise sogar heimlich, damit ich nicht immer darauf angesprochen wurde. Gewachsen bin ich in der Zeit aber nicht, weder in die Höhe, noch in die Breite. Ich war schon immer etwas kurviger gewesen, aber ich mochte meinen Körper, so wie er war. Viel schlimmer war, dass ich ständig unglaublich müde und schnell reizbar war. Aber ich schob das auf die Pubertät. Das war doch sicherlich alles normal, oder nicht?
Mein 18. Geburstag war in wenigen Tagen und meine Eltern machten mich wahnsinnig. Sie wollten unbedingt, dass ich ihn groß feiere, aber ich wollte nur mit meinen Freundinnen gemütlich abhängen. Sie waren der Meinung, das wäre das wichtigste Event meines bisherigen Lebens, aber ich wollte nur meine Ruhe. Ich war mittlerweile so ausgelaugt, hatte ständig Schmerzen in den Knochen und bekam langsam Angst, dass ich vielleicht ernsthaft krank war. Aber ich versuchte mich so gut es ging zusammenzureißen.
Meinen Geburtstag feierte ich schließlich mit meinen engsten Freundinnen, wir wollten in meinen Geburtstag hineinfeiern und trafen uns bei mir. Wir bestellten Pizza und schauten einen Horrorfilm. Für mich bis dahin ein perfekter Geburtstag. Als meine Freundin Jessa plötzlich eine Flasche aus ihrer Tasche hervorzog, änderten sich die Pläne dann aber doch noch. „Ich habe eine Flasche Wodka besorgt, wir gehen heute Abend aus!“, verkündete sie und meine Augen wurden groß.
„Aber noch bin ich 17 und darf keinen Alkohol trinken“, sagte ich und musste selbst kichern. „Ich denke, da darfst du eine Ausnahme machen. Es sind ja nur noch 2 Stunden“, sagte Lina und goss uns ein.
Die Stimmung wurde ausgelassener und wir entschieden uns, in eine Bar zu gehen. Meine Eltern waren außer sich vor Freude, schließlich war ich vorher noch nie ausgegangen. „Seid spätestens um 3 Uhr wieder zu Hause, verstanden?“, sagte meine Mum noch gespielt streng, dann verabschiedete ich mich und wir zogen los.
„Deine Mum ist echt cool“, sagte Jessa und ich musste ihr zustimmen. Meine Eltern hatten zwar auch ihre strengen Momente, aber sie ließen mir letzlich viele Freiheiten.
Gegen halb 12 erreichten wir die einzige Bar der Stadt, die ein Treffpunkt für so ziemlich alle jungen Leute hier war. Wir gingen direkt zur Bar und bestellten ein paar Bier.
Es war ziemlich voll und so mischten wir uns unter die Leute auf die Tanzfläche. Ich war vorher noch nie in einer Bar gewesen und die vielen Leute machten mich etwas nervös. Ich konnte mich aber schnell entspannen und hatte viel Spaß auf der Tanzfläche. Um genau 24 Uhr kam meine Freundin Lina mit einer riesigen Flasche und ein paar Wunderkerzen auf mich zu und grölte „Happy Birthday“. Was für ein Klischee. Die Leute um mich herum fingen an zu jubeln und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. „Tut mir leid, aber da musst du jetzt durch“, flüsterte mir Jessa ins Ohr und ich verdrehte die Augen, musste aber trotzdem lachen.
Wir gingen an einen der Tische und ich mixte uns ein paar Drinks aus der Flasche. Doch als wir da so saßen, überkam mich plötzlich ein komisches Gefühl in der Brust. Meine Haut fühlte sich zu eng an für meine Knochen und mein Kiefer begann zu schmerzen. Bekam ich eine Panikattacke? Oder Migräne? Schweiß stand mir mittlerweile auf der Stirn und ich entschuldigte mich bei meinen Freundinnen. Ich musste an die frische Luft, hier drinnen war es einfach zu stickig. Ich murmelte etwas von Übelkeit und rannte nach draußen. Meine Freundinnen dachten wohl, mir bekäme der Alkohol nicht gut. Ich klammerte mich an die Hauswand und konnte einen Moment lang nichts mehr sehen, weil sich die Welt um mich herum drehte.
Als ich mich etwas gesammelt hatte, lief ich ein Stück in den angrenzenden Wald. Diese Stadt bestand zu ungefähr 90 Prozent aus Bäumen, aber ich kannte mich hier ziemlich gut aus, weil ich mich immer zu den Wäldern hingezogen gefühlt hatte. Ich hörte Lina und Jessa nach mir rufen, aber ich konnte nicht antworten. Mein Kiefer schmerzte mittlerweile so sehr, dass mir die Tränen kamen und ich ging noch ein Stück tiefer in den Wald hinein.
Ich hörte ein Knacken und meine Beine gaben unter mir nach. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als ob er sich verformen würde und ich glaubte, dass er es auch tat. Meine Finger wurden länger und ich sah, wie aus meinen Fingernägeln Krallen wurden. Ich hatte noch nie so große Angst gehabt. An meinen Armen und Beinen bildete sich Fell und dann waren die Schmerzen fort. So schnell wie sie gekommen waren, ließen sie wieder nach. Ich rannte los. Auf vier Beinen. Als ich an einen kleinen See kam, beugte ich mich über das Wasser und wäre vor Schreck beinahe umgekippt. Ich sah einen Wolf. Einen riesigen Wolf. Der Wolf hatte beinahe weißes Fell, doch dann erkannte ich meine Augen. Sie strahlten in einem so intensiven Grün, dass sie fast leuchteten. Das waren meine Augen. Was zum Teufel war hier nur los? Ich konnte es nicht mehr leugnen. Ich hatte mich in einen Wolf verwandelt. Was sollte ich nur machen? Wie sollte ich das nur rückgängig machen? Ich konnte unmöglich ab jetzt als Wölfin leben, das war doch absurd.
Fast die ganze Nacht über wanderte ich durch den Wald. Ich hatte furchtbare Angst, von jemandem gesehen zu werden. Aber ich musste irgendwie nach Hause. Meine Eltern würden sich riesige Sorgen machen und meine Freundinnen drehten wahrscheinlich gerade durch.
Irgendwann überkam mich die Müdigkeit und ich schlief unter einer großen Eiche ein.
Als ich Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht spürte, öffnete ich verwirrt die Augen. Ich schaute mich um und sah nur Bäume. Langsam erinnerte ich mich an die letzte Nacht. Ich hatte mich in einen Wolf verwandelt. Was zur Hölle? Und ich war nackt. Splitterfasernackt. Ich kann doch so nicht nach Hause gehen? Aber meine Eltern machten sich wahrscheinlich tierische sorgen, also lief ich los.
Ich brauchte einige Zeit, um mich zu orientieren, doch als ich unser Haus sah, atmete ich erleichtert auf. Zum Glück wohnten wir direkt an einem Waldstück und so musste ich nicht nackt durch die komlpette Stadt laufen. Ich öffnete leise die Hintertür, doch meine Mum sah mich direkt. Sie schrie auf vor Erleichterung und brachte mir sofort eine Decke, damit ich mich bedecken konnte.
„Wo warst du??? Und warum bist du nackt?“, schrie sie unter Tränen. Mein Vater kam ebenfalls ins Wohnzimmer gerannt und schlug die Hände überm Kopf zusammen. „Lottie, Gott sei dank! Geht es dir gut?“Ich nickte benommen, aber meine Eltern schauten mich traurig an. Sollte ich ihnen erzählen, was passiert war? Würden sie mir glauben, oder mich doch einweisen lassen? Ich entschied mich für die Wahrheit. Immerhin waren das meine Eltern und ich vertraute ihnen.
„Ich erzähle euch, was passiert ist, aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr nicht durchdreht. Es war völlig verrückt, aber ich bilde mir das nicht ein, ok?“
„Ja Schatz, natürlich. Du kannst uns alles sagen“, sagte Mum und ich setzte mich langsam aufs Sofa. Ich war zu erschöpft, um länger zu stehen.
Ich erzählte ihnen alles, was passiert war. Als ich zu dem Teil mit dem Wolf kam, wurden die Augen der beiden groß, aber ich versicherte ihnen, dass es so war.
„Bist du sicher, dass du nicht zu viel getrunken hast?“, fragte Dad.
„Nein, ich hab nicht viel getrunken. Ich habe auch keine Drogen genommen. Es ist wirklich passiert, ich kann es ja auch kaum glauben.“
Meine Mum fing an zu weinen. Ich verstand, dass sie es nicht glauben konnten. Irgendwann nickte Mum. „Ich glaube dir. Es klingt zwar völlig verrückt, aber ich glaube dir. Jetzt geh dich erst mal waschen und ruh dich aus, mein Schatz.“, sagte sie schließlich und ich ging erleichtert nach oben. Als ich gerade unter die Dusche steigen wollte, hörte ich meine Eltern streiten. „Du glaubst das doch nicht ernsthaft, Marie?“, schrie mein Vater. „Sie braucht psychische Hilfe.“
„Ich glaube ihr auch nicht wirklich, aber warum sollte sie uns anlügen? Wir müssen ihr helfen und sie unterstützen, egal ob es wahr ist oder nicht.“, sagte sie, dann hörte ich sie nicht mehr, weil sie zu leise sprachen. Nach der Dusche fühlte ich mich schon wesentlich besser. Trotzdem ging mir diese Nacht einfach nicht aus dem Kopf.
Die nächsten Tage verliefen überraschend normal. Meine Eltern sprachen mich nicht mehr auf das Thema an, aber ich hörte sie ab und zu streiten. Sie waren wohl der Meinung, dass wir es einfach ignorieren sollten. Also gut! Ich ging zur Schule und musste meinen Freundinnen irgendwie erklären, was da passiert war. Natürlich sagte ich nicht die Wahrheit, sondern erklärte, dass mir übel geworden sei und ich mich im Wald verlaufen hätte. Sie glaubten mir zwar, waren aber dennoch etwas misstrauisch, schließlich hab ich nicht allzu viel getrunken. Sie fragten mich, ob da vielleicht ein Typ in der Geschichte vorkäme, den ich verheimlichte. Ich wünschte, es wäre so.