Der Vollstrecker
**THERON**
Die Nacht hatte sich über das Land gelegt, dicht und undurchdringlich wie ein schwarzer Schleier. Der Mond hing tief am Himmel, blass und beinahe schüchtern, als würde er sich vor dem Schauspiel verbergen, das gleich beginnen würde. Der Wind flüsterte durch die hohen Kiefern, und das Rudel hatte sich versammelt, jeder Einzelne in angespannter Stille. Ihre Blicke waren gesenkt, niemand wagte es, die goldenen Augen ihres Alphas zu treffen.
Ich stand inmitten meines Rudels, die Kälte der Nacht kroch mir in die Knochen, doch ich ließ es mir nicht anmerken. Schwäche hatte keinen Platz in meinem Reich. Nicht bei mir, nicht bei ihnen. Marek, mein Beta, stand dicht neben mir, sein Gesicht eine Maske aus Granit. Er wusste, was kommen würde.
„Ihr kennt die Regeln“, begann ich, meine Stimme ein tiefes Grollen, das sich in die Dunkelheit bohrte. „Fehler werden nicht toleriert. Versagen hat seinen Preis.“
Ich ließ meinen Blick über die versammelten Wölfe schweifen, jeden Einzelnen mit meiner Erscheinung niederdrückend. Meine Aura war eine Faust, die sich um ihre Kehlen legte, sie würgte und daran erinnerte, dass ich der Vollstrecker war. Der Alpha.
Vor mir kniete Ivan, ein junger Wolf, der sich bewiesen hatte – bis zu dieser Nacht. Sein Gesicht war blass, die Lippen zitterten, doch er hielt den Blick gesenkt. Mutig, das musste ich ihm lassen. Aber Mut war nicht genug.
„Erklär dich“, knurrte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Meine nackten Füße hinterließen Abdrücke auf dem feuchten Boden, jeder Schritt ein stummes Versprechen von Gewalt.
„Alpha… ich… ich wollte nur helfen…“ Ivans Stimme war brüchig, kaum mehr als ein Flüstern.
„Helfen?“ Ich lachte leise, ein dunkler, kalter Laut, der die Luft zwischen uns zerschnitt. „Indem du die Streuner über unsere Grenze lässt? Indem du unser Territorium entweihst?“
Ivan schüttelte den Kopf, seine Hände zitterten, als er sie vor sich hob. „Ich wusste nicht… sie haben mich getäuscht…“
„Getäuscht?“ Meine Stimme war jetzt ein Beben, das durch die Erde unter unseren Füßen zu grollen schien. „Du bist ein Wolf, Ivan, kein dummes Schaf. Täuschung ist eine Schwäche, die ich nicht dulde.“
Ich spürte Mareks Blick auf mir, doch er sagte nichts. Er wusste, dass dies mein Urteil war, und er würde es nicht infrage stellen.
„Alpha“, wagte Ivan erneut, seine Stimme ein verzweifeltes Flehen. „Bitte… ich werde es wiedergutmachen. Gebt mir eine Chance.“
Ich kniete mich vor ihn, packte sein Kinn und zwang ihn, mich anzusehen. Meine Augen brannten, und ich sah die Angst in seinen. Angst, aber auch ein Hauch von Trotz. Dumm.
„Wiedergutmachen?“ Ich ließ das Wort auf meiner Zunge rollen, wie Gift, das ich ausspucken wollte. „Du hattest deine Chance, und du hast sie vergeudet. Weißt du, was das bedeutet?“
Ivan schluckte schwer, sein Blick flackerte, doch er wagte es nicht zu antworten. Ich ließ ihn los, erhob mich und wandte mich an das Rudel.
„Was ist die oberste Regel?“ fragte ich, meine Stimme ruhig, beinahe sanft.
„Das Rudel über alles“, kam die einhellige Antwort, ihre Stimmen ein unheilvolles Murmeln, das durch die Nacht rollte.
„Und was geschieht mit denen, die das Rudel gefährden?“
„Sie zahlen den Preis.“
„Richtig.“ Ich wandte mich wieder Ivan zu, der jetzt noch blasser aussah. „Und du, Ivan, wirst zahlen.“
Er öffnete den Mund, doch bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, packte ich ihn mit einer Geschwindigkeit, die ihn überrumpelte. Mein Griff war wie Stahl, unnachgiebig und tödlich. Ich schleuderte ihn gegen den nächsten Baum, hörte das Knacken von Holz und das Keuchen, das seinen Lippen entkam.
„Theron!“ Mareks Stimme war ein scharfes Messer, das sich in die Stille schnitt. Ich drehte den Kopf zu ihm, meine Augen ein brennendes Mahnmal.
„Wirst du mir widersprechen, Beta?“ fragte ich leise, doch die Drohung war unverkennbar.
Marek hielt meinem Blick stand, seine Kiefer mahlten, doch er schüttelte schließlich den Kopf. „Nein, Alpha.“
„Gut.“ Ich wandte mich wieder Ivan zu, der sich mühsam aufrichtete, seine Hand auf seine Brust gepresst. Blut sickerte durch seine Finger, und ich roch die Angst, die seinen Schweiß tränkte.
„Du hast das Rudel verraten“, sagte ich, meine Stimme ein dunkles Grollen. „Und dafür gibt es nur eine Strafe.“
Ich spürte, wie sich das Rudel bewegte, wie ihre Angst und ihre Spannung in der Luft schwebten. Dies war eine Lektion, und sie alle würden sie lernen.
Ivan war stark, das musste ich ihm lassen. Doch am Ende war er nicht stark genug. Ich ließ ihn nicht sterben – noch nicht. Er würde als Warnung dienen, sein gebrochener Körper eine Mahnung an alle, die es wagten, meine Befehle zu missachten.
„Bringt ihn zurück ins Lager“, befahl ich, als ich von ihm abließ. Meine Hände waren blutig, doch das störte mich nicht. Blut war ein Teil von mir, ein Teil dessen, was ich war.
Zwei meiner Wölfe packten Ivan und zogen ihn davon, während ich Marek einen letzten Blick zuwarf.
„Das Rudel ist stark“, sagte ich, und meine Stimme war kalt und endgültig. „Weil wir keine Schwäche dulden. Vergiss das nie, Marek.“
„Ich werde es nicht vergessen“, antwortete er leise, doch in seinen Augen lag etwas, das mich beunruhigte.
Ich wandte mich ab und verschwand in die Schatten des Waldes. Die Kälte der Nacht war nichts im Vergleich zu der Kälte in mir. Ich war Theron, der Alpha. Und niemand – nicht einmal mein eigenes Rudel – würde mich schwächen.
Doch in den Tiefen meines Inneren regte sich etwas, ein leises Flüstern. War dies Stärke? Oder war es etwas anderes, das mich langsam von innen heraus zerfraß?
Ich war ein Alpha, wie es ihn kein zweites Mal gab. Mein Name war ein Flüstern in der Dunkelheit, eine Warnung, die über die Grenzen hinaus hallte. Theron vom Okva-Rudel – ein Name, der sowohl Ehrfurcht als auch Furcht auslöste. Und das mit Recht. Ich hatte dieses Rudel aufgebaut, geformt aus Blut, Disziplin und einem eisernen Willen, der kein Versagen duldete.
Unser Revier war Tschechien, an der Grenze zu Österreich. Diese Wälder waren meine Heimat, mein Königreich. Die Grenzen waren gesichert, jeder Pfad überwacht. Fremde, die es wagten, einzudringen, wurden zur Warnung gemacht – oder zu Staub.
Ich herrschte über das Okva-Rudel seit meinem 18. Lebensjahr, als mein Vater fiel und mir die Verantwortung hinterließ. Nun, mit 35, war ich stärker, härter und unerbittlicher als je zuvor. Mein Rudel war groß und gesund, ein Zeichen meiner Stärke und meines unnachgiebigen Führungsstils. Doch auch das stärkste Rudel war nicht unfehlbar.
Ivan war der Beweis. Ein junger Wolf, dumm und impulsiv. Der Nachwuchs war meine größte Schwäche. Nicht, weil sie schwach waren, sondern weil ich keine Geduld für sie hatte. Ihre Fehler waren ein Schatten, der über meine Führung kroch, ein leises Flüstern, das mich an meiner Macht zweifeln ließ.
Ich trat durch die schwere Holztür meines Hauses und spürte die vertraute Kühle des Steins unter meinen Füßen. Mein Haus war das größte im Lager, ein Symbol meiner Stellung. Es thronte über den anderen, mit einem Ausblick, der das gesamte Rudel überblickte. Ich hatte es gebaut, Stein für Stein, mit meinen eigenen Händen, um zu zeigen, dass ich nicht nur herrschte, sondern schuf.
Doch trotz des Reichtums, der Fülle, die ich meinem Rudel sicherte, war es niemals genug. Ich spürte es, das Knistern in der Luft, die Unruhe. Ein Alpha ohne Gefährtin war wie ein Baum ohne Wurzeln – mächtig und imposant, doch stets bedroht, vom Wind entwurzelt zu werden.
Vielleicht war es das, was mich nachts wach hielt. Nicht die Drohungen von außerhalb, nicht die Fehler der Jungen, sondern die Leere in mir, die selbst der stärkste Wolf nicht füllen konnte. Mein Wolf war ungeduldig, ein knurrender Schatten in meinem Inneren, der mich zu mehr trieb, der mir zuflüsterte, dass ich nicht vollständig war.
Ich griff nach der Flasche Whiskey, die auf dem Tisch stand, und goss mir ein Glas ein. Der brennende Geschmack war vertraut, fast beruhigend. Doch die Ruhe hielt nie lange. Mein Wolf riss an mir, forderte, schrie.
„Bist du zufrieden?“ murmelte ich in die Dunkelheit, meine Stimme ein bitteres Grollen.
Natürlich war er es nicht. Mein Wolf war nie zufrieden. Er war ein Teil von mir, und doch war er mein größter Feind. Seine unbändige Wut, seine unstillbare Gier nach Macht und Kontrolle – sie waren das, was mich zu dem machte, was ich war, doch sie waren auch mein Fluch.
Ich ließ mich in den schweren Sessel fallen, der vor dem Kamin stand, und starrte in die Flammen. Ihre Hitze war ein schwacher Trost, ihr Licht schien die Dunkelheit in mir nur zu verhöhnen.
Das Knarren der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich wusste, wer es war, bevor ich ihn sah. Marek, mein Beta, trat ein, sein Gesicht so unlesbar wie immer. Doch ich kannte ihn zu gut. Ich sah die Anspannung in seiner Haltung, den Hauch von Zögern in seinen Bewegungen.
„Was ist es, Marek?“ fragte ich, ohne ihn anzusehen.
„Ivan lebt.“ Seine Stimme war ruhig, doch ich hörte das Gewicht seiner Worte.
„Das weiß ich.“
„Das Rudel… spricht. Einige fragen sich, ob die Strafe hart genug war.“
Ich drehte mich zu ihm um, meine Augen brannten in die seinen. „Hart genug?“ Meine Stimme war leise, doch sie ließ ihn erstarren. „Willst du mir sagen, dass ich nachlässig war?“
„Nein, Alpha.“ Er senkte den Blick, doch ich sah, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. Marek war loyal, aber er war auch stolz. Und Stolz war gefährlich.
„Gut.“ Ich stand auf und trat auf ihn zu, bis ich direkt vor ihm stand. „Das Rudel braucht keine Gnade, Marek. Es braucht Stärke. Und Stärke kommt von mir.“
Er nickte, sagte jedoch nichts. Ich sah die Frage in seinen Augen, die er nicht zu stellen wagte. Warum ich Ivan leben ließ. Warum ich, der gnadenlose Alpha, einen Fehler ungesühnt ließ.
Die Wahrheit war, dass ich es selbst nicht wusste. Vielleicht war es Mitleid, ein Gefühl, das ich längst hätte begraben sollen. Oder vielleicht war es die Unruhe in mir, die mich zweifeln ließ.
Nachdem Marek gegangen war, kehrte die Stille zurück, doch sie war lauter als zuvor. Mein Wolf knurrte, ein leises, bedrohliches Geräusch, das in meinen Gedanken widerhallte.
„Du bist schwach.“
Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich schloss die Augen und atmete tief ein, versuchte, den inneren Sturm zu beruhigen. Doch mein Wolf ließ nicht nach.
„Du bist schwach, weil du allein bist.“
Ich öffnete die Augen und warf das Glas in den Kamin. Das Klirren und die aufflackernden Flammen waren ein schwacher Trost.
Allein. Das Wort schnitt tief. Es war wahr. Ich hatte keine Gefährtin, und das Rudel wusste es. Sie spürten es, diese Leere, die an mir nagte, die mich auszehrte.
Ein Alpha ohne Gefährtin war eine tickende Zeitbombe. Das Rudel brauchte Stabilität, und eine Gefährtin bedeutete Stabilität. Doch ich konnte keine Gefährtin erzwingen, und mein Wolf hatte bisher keinen Anspruch auf eine erhoben.
Vielleicht war ich dazu verdammt, allein zu sein. Vielleicht war das der Preis für meine Stärke, für die Macht, die ich besaß.
Doch tief in mir spürte ich etwas anderes. Eine Ahnung, ein Flüstern. Mein Wolf war unruhig, nicht wegen meiner Schwäche, sondern weil er etwas spürte. Etwas, das ich noch nicht verstand.
Ich stand auf, zog meinen Mantel an und trat hinaus in die Nacht. Die Kälte schlug mir ins Gesicht, doch sie war mir willkommen. Sie war das Einzige, was mich noch spüren ließ, dass ich lebte.
Die Dunkelheit umgab mich, und ich ging in den Wald, meine Schritte leise, meine Sinne geschärft. Vielleicht würde ich dort Antworten finden. Oder vielleicht würde ich nur weiter suchen.
Denn das war alles, was ich war. Ein Jäger. Ein Schatten. Und doch… fühlte ich, dass sich etwas ändern würde. Bald.