Emmas Schokoträume
**EMMA**
Die Sonne schien durch die großen Fenster meiner kleinen Chocolaterie und verlieh den Regalen mit handgefertigten Pralinen einen warmen Glanz. Es war ein Bild, das fast kitschig wirkte – perfekt, fast zu perfekt, um wahr zu sein. Doch hinter dieser Idylle verbarg sich die wahre Herausforderung meines Lebens: das perfekte Zusammenspiel von Geschmack, Textur und Ästhetik.
Mein Geschäft, „Emmas Schoko-Träume“, war mein ganzer Stolz. Jeder Bissen, den die Kunden probierten, war das Ergebnis jahrelanger Übung, unzähliger Versuche und ein paar verbrannter Finger. Und wenn ich die strahlenden Gesichter meiner Kunden sah, wusste ich, dass es jede Mühe wert war.
Die Schokoladenluft meiner kleinen Chocolaterie war wie eine warme Umarmung, die den Alltag draußen vor der Tür hielt. Doch meine Gedanken waren längst nicht so friedlich wie der Duft von Kakaobutter und gerösteten Nüssen. Valentinstag rückte bedrohlich näher, und mit ihm die wahnsinnigen Männer, die in letzter Sekunde verzweifelt Pralinen für ihre Partnerinnen kauften, als könnte ein Herz aus Schokolade ihre emotionalen Fehltritte des gesamten Jahres wieder gutmachen.
„Jessy!“ rief ich, während ich die ersten Himbeer-Chili-Trüffel in meine Auslage legte. „Hast du die neuen Herzschachteln gefunden?“
„Bin dran, Chefin!“ kam es aus dem Lager, begleitet von einem lauten Scheppern, das verdächtig nach fallenden Kisten klang. „Und keine Sorge, ich hab nichts zerbrochen. Diesmal nicht!“
„Das beruhigt mich enorm,“ murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.
Jessy erschien mit einer großen Kiste voller Verpackungen in den Händen und einem breiten Grinsen im Gesicht. „Sag mal, hast du schon von diesem Typen gehört, der die neue Pralinenfabrik leitet?“
Ich verdrehte die Augen. Natürlich. Farmer’s Finest war das neue Gesprächsthema in der Nachbarschaft. Es war schwer, zwei Straßen weiterzugehen, ohne die prahlerischen goldenen Buchstaben des Gebäudes zu sehen. „Bitte sag mir nicht, dass du jetzt ein Fan dieser Massenproduktion bist.“
„Ich? Niemals!“ Jessy stellte die Kiste ab und lehnte sich mit vor Aufregung leuchtenden Augen an die Theke. „Aber die Leute reden. Und was ich höre, ist... sagen wir mal, interessant.“
Ich hob eine Augenbraue und versuchte, unbeteiligt zu wirken. „Oh? Interessant, wie?“
„Na ja, erstens,“ begann Jessy und zählte dramatisch an ihren Fingern ab, „die Pralinen sollen schrecklich schmecken. Eine Kundin meinte, sie hätten die Konsistenz von Schuhsohlen und den Geschmack von billigem Zuckerwasser.“
„Schuhsohlen? Nett,“ murmelte ich, konnte mir aber ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen.
„Zweitens,“ fuhr Jessy fort, „die Fabrik ist total modern, mit irgendwelchen Hightech-Maschinen. Aber weißt du, was die Leute wirklich nervt? Der Chef.“
„Ah, jetzt wird’s spannend,“ sagte ich trocken, während ich eine weitere Charge Pralinen temperierte. „Was sagt man über ihn?“
Jessy beugte sich verschwörerisch näher. „Angeblich ist er ein arroganter Schnösel, der glaubt, die ganze Welt liegt ihm zu Füßen. Groß, gut aussehend, aber ein kompletter Weiberheld. Eine Kundin meinte, sie hätte ihn bei einer Veranstaltung gesehen, wo er jede Frau im Raum angeflirtet hat. Sogar die, die mit ihren Männern da waren.“
Ich zog eine Grimasse. „Klingt genau nach dem Typ Mensch, den ich brauche – jemanden, der sich für unwiderstehlich hält und dann schlechte Schokolade verkauft. Kein Wunder, dass die Leute ihre Pralinen nicht mögen. Wahrscheinlich steckt genauso viel Herz in seinen Produkten wie in seinen Flirtversuchen.“
„Und drittens,“ Jessy hob eine Hand, als wollte sie den Höhepunkt ihrer Geschichte ankündigen, „er soll verzweifelt sein. Die Fabrik läuft wohl überhaupt nicht. Angeblich haben sie diese Woche die Preise gesenkt, um überhaupt irgendwas loszuwerden.“
Ich hielt inne und sah sie an. „Verzweifelt, sagst du?“
Jessy nickte eifrig. „Ja! Und weißt du, was das Beste ist? Die Leute sagen, er versucht jetzt, jemanden zu finden, der die Firma rettet. Irgendjemand mit Talent.“
Ich lachte leise. „Na dann viel Glück. Talent ist nicht etwas, das man kaufen kann. Und wenn er glaubt, er könnte mit seinen Maschinen echte Handwerkskunst ersetzen, hat er sich geschnitten.“
Jessy grinste breit. „Ich wette, er hat schon an dich gedacht.“
„Das ist lächerlich.“ Ich schnitt ihr mit einem scharfen Blick das Wort ab. „Selbst wenn er auf die Idee kommen sollte – ich arbeite für niemanden. Schon gar nicht für jemanden, der glaubt, Massenware könnte echte Kunst ersetzen.“
„Klingt, als hättest du dir das gut überlegt.“ Jessy zwinkerte und schnappte sich eine der Himbeer-Chili-Trüffel. „Aber ganz ehrlich, Emma, ich wünschte, du würdest ihn mal treffen. Stell dir vor, wie du ihm so richtig die Meinung sagen könntest. Das wäre episch.“
„Danke für den Tipp,“ sagte ich trocken, „aber ich habe Besseres zu tun, als mit arroganten CEOs zu diskutieren.“
Die nächsten Stunden waren eine Mischung aus Geschäftigkeit und Chaos. Kunden kamen und gingen, Jessy rannte durch den Laden, um Bestellungen zusammenzustellen, und ich warf immer wieder einen Blick aus dem Fenster auf das große Gebäude von Farmer’s Finest. Es war wie ein Dorn in meinem Blickfeld, ein ständiger Reminder, dass es da draußen Menschen gab, die glaubten, sie könnten sich alles erkaufen – sogar Leidenschaft und Perfektion.
„Was denkst du, wie lange die durchhalten?“ Jessy lehnte sich an die Theke, während sie eine kurze Verschnaufpause einlegte.
„Nicht lange,“ antwortete ich mit einem leichten Lächeln. „Qualität setzt sich durch, Jessy. Früher oder später merken die Leute, dass es mehr braucht als Maschinen, um wirklich gute Pralinen zu machen.“
„Na ja,“ meinte Jessy nachdenklich, „du solltest trotzdem ein Auge drauf haben. Wer weiß, vielleicht versuchen die irgendwann, dich auszuspionieren.“
„Lass sie doch,“ erwiderte ich mit einem Schulterzucken. „Wenn sie denken, sie können lernen, was ich mache, indem sie mich beobachten, sollen sie ruhig. Am Ende bleibt doch immer die gleiche Wahrheit: Leidenschaft kann man nicht fälschen.“
Ich wollte es leichtfertig klingen lassen, aber ein Teil von mir war beunruhigt. Die Konkurrenz war da, und auch wenn ich mich auf meine Fähigkeiten verlassen konnte, wusste ich, dass die Welt nicht immer fair war.
Der Valentinstags-Ansturm war in vollem Gange, und ich hatte kaum Zeit, Luft zu holen. Die Kunden standen Schlange, und Jessy jonglierte hektisch zwischen der Kasse und den Regalen mit Pralinen, während ich hinter der Theke unermüdlich Schachteln befüllte. Trotzdem schwebte ein Gedanke immer wieder durch meinen Kopf – Farmer’s Finest.
Nicht, dass ich Angst vor ihnen hätte. Nein, ich wusste, dass meine Pralinen besser waren. Jeder Bissen war ein Stück Leidenschaft, und das konnten Maschinen nicht nachahmen. Aber etwas an der Sache ließ mich nicht los. Vielleicht waren es Jessys Geschichten über den angeblich arroganten CEO. Vielleicht auch der Gedanke, dass jemand versuchen könnte, mir meinen Erfolg streitig zu machen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
„Emma!“ Jessys Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie stand neben mir, eine geöffnete Schachtel Pralinen in der Hand, die sie gerade einem Kunden übergeben wollte. „Die Frau da drüben hat gefragt, ob wir auch so etwas Besonderes wie Farmer’s Finest anbieten.“
Ich erstarrte. „Das hat sie nicht gesagt.“
Jessy grinste schief. „Doch. Ich hab fast gelacht, aber ich dachte, ich überlasse dir den Moment, sie aufzuklären.“
Ich warf einen Blick zur Kundin, einer älteren Dame mit leuchtend pinkem Hut, die gerade ein Herz aus Schokolade betrachtete. Ich trat vor, mein freundlichstes Lächeln im Gesicht.
„Entschuldigen Sie, ich habe gehört, Sie haben nach Farmer’s Finest gefragt?“
Die Frau sah auf und nickte. „Ja, meine Nachbarin hat davon gesprochen. Sie meinte, die haben eine hübsche Verpackung, aber ich weiß nicht...“
„Oh, die Verpackung ist tatsächlich sehr hübsch,“ sagte ich und hielt dabei meinen Ton neutral. „Aber wenn Sie wirklich etwas Besonderes suchen, empfehle ich Ihnen diese hier.“ Ich nahm eine meiner neuen Himbeer-Chili-Trüffel aus der Auslage. „Handgefertigt, mit einer leichten Schärfe, die den Geschmack perfekt abrundet.“
Die Frau nahm die Praline, biss vorsichtig hinein – und ihre Augen weiteten sich. „Oh! Das ist wirklich... außergewöhnlich.“
„Vielen Dank.“ Ich lächelte charmant. „Bei uns geht es nicht nur um das Äußere. Wir glauben, dass die inneren Werte genauso wichtig sind.“
Jessy prustete leise hinter mir los, während ich mich wieder hinter die Theke verzog.
Nachmittags, als der größte Andrang vorbei war, nutzten Jessy und ich die Gelegenheit, um die Vorräte aufzufüllen. Während ich neue Pralinen temperierte, setzte sich Jessy auf einen der Hocker an der Theke und begann, mir Geschichten über die Fabrik zu erzählen, die sie von Kunden gehört hatte.
„Weißt du, Frau Gruber meinte, sie hätte den CEO gesehen, wie er in seinem riesigen schwarzen Auto vorgefahren ist,“ begann sie. „Ein teures Ding. Und natürlich steigt er aus, sieht aus wie ein Model und tut so, als ob ihm die ganze Straße gehört.“
„Klingt nach jemandem, den ich unbedingt kennenlernen möchte,“ sagte ich sarkastisch und füllte die geschmolzene Schokolade in Formen.
„Aber das Beste kommt noch,“ fuhr Jessy fort und beugte sich verschwörerisch näher. „Angeblich hat er keine Ahnung von Schokolade. Er soll aus irgendeiner anderen Branche kommen, irgendwas mit Immobilien oder so.“
Ich hielt inne und drehte mich zu ihr um. „Immobilien? Und jetzt will er Pralinen machen? Das ist ja fast noch schlimmer, als ich dachte.“
„Total,“ bestätigte Jessy und grinste. „Aber ehrlich gesagt, ich wünschte, ich könnte mal einen Blick in die Fabrik werfen. Einfach nur, um zu sehen, wie schlecht es wirklich ist.“
„Glaub mir, Jessy, du würdest es keine zehn Minuten aushalten. Wahrscheinlich riecht es dort nach Plastik und synthetischer Vanille.“
Der Rest des Tages verlief ohne weitere Zwischenfälle, aber als wir am Abend den Laden schlossen, blieb die Fabrik ein Gesprächsthema. Während Jessy den Boden fegte, konnte ich nicht anders, als aus dem Fenster zu schauen und die leuchtenden Buchstaben von „Farmer’s Finest“ zu betrachten.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“ sagte ich schließlich.
„Was denn?“ Jessy blickte neugierig auf.
„Warum überhaupt jemand glauben könnte, dass so etwas funktioniert. Pralinen sind nicht nur ein Geschäft. Es ist eine Kunst, eine Leidenschaft. Wie kann man erwarten, dass Maschinen das ersetzen?“
Jessy zuckte mit den Schultern. „Vielleicht glaubt er, dass er mit genug Geld alles kaufen kann.“
Ich nickte langsam. „Vielleicht. Aber Geld allein reicht nicht.“
Jessy grinste plötzlich. „Was würdest du tun, wenn er hier reinkommt und dich um Hilfe bittet?“
„Das passiert nicht,“ sagte ich entschieden.
„Aber wenn doch?“
Ich hielt inne, dachte kurz nach und lächelte dann. „Dann würde ich ihm eine meiner Himbeer-Chili-Pralinen geben. Vielleicht lernt er dann, dass Leidenschaft scharf sein kann.“