Eins
Freitag Abend
Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Was habe ich dieses Gefühl vermisst, mal wieder raus zu kommen, den Kopf frei zu kriegen. Die Kühle des Strands dringt durch den Stoff meiner Jeans und meine Finger pflügen durch den feinen Sand. Die Anreise nach Borkum war zum Glück problemlos. Ich habe nur schnell meine Sachen auf mein Zimmer gebracht und bin losgezogen, so wie jedes mal, wenn ich hier ankomme. Es ist später Nachmittag und die Herbstsonne neigt sich dem Horizont entgegen. Die Landschaft ist so malerisch wie in meinen Erinnerungen.
Das Strandgras neben mir trägt ein Kunstwerk zerbrechlicher Schönheit aus mit Tautropfen besetzten Spinnweben, die wie Perlen an einer Schnur aufgereiht in der Sonne glänzen und sich sanft im Wind wiegen. Ein letzter Marienkäfer balanciert auf dem Grashalm. Ich strecke meine Hand aus und er krabbelt auf meinen Finger. Seine winzigen Füße kitzeln mich, bis er seine Flügel ausbreitet und davon fliegt, begleitet von meinen stummen Wünschen.
Ein einzelner Strandsucher ist in der Ferne zu sehen, immer dicht an der Wasserkante gehend, ansonsten ist der Strand nahezu verlassen. Der Mann trägt einen dunkelblauen, geknöpften Wollmantel und dazu eine hellbraune Cordhose. Sein Schal flattert wild hin und her und seine dunkelblonden Haare sind vom Wind lustig zerzaust. Eine Weile beobachte ich den einsamen Wanderer, bis ich mich wieder dem Meer und meinen eigenen Gedanken zuwende.
Wieder und wieder wische ich Haarsträhnen aus meinem Gesicht und schaue den Wellen zu, die in ihrem eigenen Takt auf den Strand laufen.
Eine Flasche, die gerade angespült wird, weckt mein Interesse. Ich stehe auf und gehe zur Wasserkante, an der eine alte Weinflasche mit jeder Welle hin und her gespült wird. Erst beim zweiten Hinsehen erkenne ich, dass es eine Flaschenpost ist.
Ich bücke mich, hebe die Flasche aus dem Wasser und trage sie zurück zu meinem trockenen Platz. Mit etwas Mühe ziehe ich den Korken heraus. Aufgeregt und gleichzeitig neugierig, setze ich mich in den Schneidersitz und schüttele die Flasche, um die Nachricht herauszubekommen. Das vergilbte Blatt ist mit etwas Paketband umwickelt, das mit einer Schleife geschlossen wurde. Die Handschrift ist typisch männlich.
"Wo bist Du?
Die schmerzhaftesten Abschiede sind diejenigen, die nie gesagt und nie erklärt werden. Es ist die plötzliche Stille, die unausgesprochenen Worte, die unbeantworteten Fragen, die mich nachts verfolgen. Ich liege wach, mein Verstand spielt jeden Moment, jedes Wort, jede Berührung noch einmal ab und sucht nach dem Grund. Warum? Aber es gibt keine Antwort, nur eine Leere, die sich in die Ewigkeit erstreckt. Es ist der Schmerz, nicht zu wissen, nicht zu verstehen, im Dunkeln gelassen zu werden, nur mit den eigenen Gedanken, die mir Gesellschaft leisten. Und in dieser Dunkelheit wird mir langsam klar, dass ich vielleicht nie wissen werde, warum, und das ist vielleicht die härteste Wahrheit von allen.
Erik"
Mein Gott, ist das schön. Und gleichzeitig tieftraurig. Der Text berührt mich und ich beschließe, ihn mitzunehmen.
Ein Schatten fällt auf mich. Ich blicke auf und sehe den Strandsucher vor mir stehen. Er lächelt schüchtern und sieht aus wachen, warmen Augen auf mich herab. Eine Strähne seines Haares tanzt auf seiner Stirn im Wind.
"Hi, was spannendes gefunden?"
"Ja, eine Flaschenpost"
"Das ist ein seltener Fund. Urlaubsgrüße?"
Seine Augen scheinen immerfort zu lachen und seine wunderschönen Lippen rufen "Küss mich", wenn er spricht.
Er sieht ein bisschen aus wie Gerard Butler, groß, maskulin, ohne wirklich schön zu sein, aber er strahlt eine Präsenz aus, die mich in den Bann zieht. Gott, ich bin schon viel zu lange Single.
Ich räuspere mich, "Nein, eher etwas sehr Berührendes."
"Wollen Sie sie vorlesen?"
Ich rolle die Nachricht wieder aus und beginne vorzulesen, bis er mich unterbricht und weiter zitiert.
"...in dieser Dunkelheit wird mir langsam klar, dass ich vielleicht nie wissen werde, warum, und das ist vielleicht die härteste Wahrheit von allen."
Ich brauche einen Moment, um die Situation zu verstehen.
Ich reiße die Augen auf, als der Groschen fällt. "Haben Sie die Nachricht geschrieben?"
"Ja, vor einem Jahr."
Er setzt sich neben mich auf den Sand. "Darf ich?" Er nimmt die Flasche und dreht sie einen Moment gedankenverloren in seiner Hand, die kräftig und gepflegt ist. Woran denkt er gerade?
"Erstaunlich, dass sie so lange gehalten hat. Es war ein Weißwein, wenn ich mich recht erinnere."
"Also sind Sie Erik?"
"Korrekt. Und sie sind..."
"Ich heiße Mareike."
Für einen Moment starre ich auf die Flasche und die Worte, die sonst wie ein steter Strom aus mir heraussprudeln, fehlen mir gerade. "Wie hieß sie denn?", flüstere ich leise.
"Sie heißt Elena." Seine Stimme klingt so angenehm, daß ich ihm den ganzen Tag zuhören könnte, so wie einem Lied, dass meinen Kopf nicht verlassen will.
"Eine ehemalige...", frage ich neugierig.
Er schüttelt den Kopf.
"Nein, meine Exfrau."
Die einsetzende Stille ist so laut, daß es mir peinlich ist. Zahllose Bilder fluten mein Gehirn und ich versuche mir vorzustellen, wie die Geschichte sich abgespielt haben mochte.
Ich mustere ihn, aber ich erkenne kein Zeichen von Trauer in seinem Gesicht. Er steht auf und verabschiedet sich. "Dann noch viel Erfolg, Mareike", nickt er mir zu und lässt mich ratlos mit dem Erlebten zurück.