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Es war ein typischer Herbstmorgen in der kleinen Stadt, die Marie ihre Heimat nannte. Die Sonne warf schwache, goldene Strahlen durch das kühle Morgennebel, und der Wind trug den Duft von welkem Laub und feuchtem Holz mit sich. Marie stand hinter der Kasse ihres kleinen Buchladens, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. „Bücherwelten“ war schon seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil des Stadtlebens, und Marie liebte nichts mehr, als inmitten der alten, ledergebundenen Werke zu stehen, den Duft von Papier in der Nase und die Ruhe der Seiten um sich herum.
Der Laden war noch leer, was um diese Uhrzeit nicht ungewöhnlich war. Marie nutzte die Gelegenheit, sich einen frischen Kaffee zu machen, und stellte ihn vorsichtig neben einen Stapel Bücher, die darauf warteten, sortiert zu werden. Sie liebte die ruhigen Morgenstunden, wenn sie ungestört durch die Regale wandern und sich von den Geschichten inspirieren lassen konnte, die jeden Winkel des Ladens erfüllten.
Gerade als sie sich über ein besonders altes Exemplar von Goethe beugte, hörte sie das leise Klingeln der Türglocke. Marie richtete sich auf und blickte zur Tür. Ein Mann trat ein, der ihr sofort ins Auge fiel. Er sah nicht aus wie einer der üblichen Kunden. Groß, mit leicht zerzausten dunklen Haaren und in einen eleganten, aber schlichten Mantel gehüllt, strahlte er eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die sie faszinierte. Seine Augen waren tief und suchend, als ob er nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau hielt.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Marie höflich, doch ihre Stimme war leiser, als sie es beabsichtigt hatte. Der Mann drehte sich zu ihr um und lächelte. Ein warmes, leicht zurückhaltendes Lächeln, das ihren Herzschlag für einen Moment beschleunigte.
„Ich hoffe es,“ sagte er und trat näher. „Ich suche ein Buch, das schwer zu finden ist. Ein alter Klassiker.“ Er zögerte kurz, als würde er überlegen, wie er es am besten beschreiben könnte. „Es ist von einem französischen Schriftsteller… Jules Verne.“
Marie spürte, wie ihre Augen aufleuchteten. Verne war einer ihrer Lieblingsautoren. „Natürlich! Welches Buch suchen Sie?“ Sie trat um die Theke herum, ihre Scheu verflog für einen Moment, als sie sich in das Gespräch über Bücher stürzte.
„‚Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‘“, antwortete er, und Marie nickte sofort. Sie kannte das Buch gut und wusste genau, wo sie es finden würde. „Ich habe gehört, dass Sie eine seltene Ausgabe haben.“
„Tatsächlich“, sagte sie, während sie sich zum Regal auf der anderen Seite des Ladens bewegte. „Eine Erstausgabe, mit dem originalen Cover.“ Sie griff nach dem Buch und hielt es ihm stolz entgegen. „Es ist eines meiner Schätze.“
Der Mann nahm das Buch vorsichtig in die Hand, als wäre es ein wertvoller Gegenstand, den er nicht beschädigen wollte. „Es ist perfekt“, murmelte er, während er die Seiten durchblätterte. „Danke.“
Marie beobachtete ihn still, während er das Buch studierte. Etwas an ihm faszinierte sie. Er wirkte gleichzeitig präsent und gedanklich abwesend, als ob er in eine andere Welt eintauchen würde, sobald er die Seiten berührte. Sie fragte sich, wer er war und warum er so viel Wert auf dieses spezielle Buch legte.
„Lesen Sie viel von Verne?“ wagte sie zu fragen, als er das Buch wieder schloss und zu ihr zurückblickte.
„So oft ich kann“, antwortete er mit einem schwachen Lächeln. „Aber dieses Buch… hat eine besondere Bedeutung für mich. Es war das erste Buch, das mir mein Großvater vorgelesen hat, als ich ein Kind war.“
Etwas in seiner Stimme ließ Marie einen leichten Anflug von Traurigkeit wahrnehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie weiter nachfragen sollte, doch die Neugier überwog. „Das klingt nach einer schönen Erinnerung.“
Er nickte nur, sagte aber nichts weiter. Das Schweigen zwischen ihnen war jedoch nicht unangenehm. Stattdessen hatte es etwas Vertrautes, als ob sie sich schon lange kennen würden, obwohl sie sich gerade erst getroffen hatten.
„Wie viel kostet es?“ fragte er schließlich und zog seine Brieftasche aus der Manteltasche.
Marie zögerte einen Moment. Sie wusste, dass das Buch wertvoll war, doch irgendwie wollte sie es ihm nicht nur als eine gewöhnliche Transaktion verkaufen. Es war, als ob dieses Buch für ihn mehr war als nur Papier und Tinte. „Ich mache Ihnen einen Sonderpreis“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich denke, es sollte wieder in gute Hände kommen.“
Er sah sie überrascht an, als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie so entgegenkommend wäre. „Das ist sehr großzügig von Ihnen.“
„Es ist das Richtige“, erwiderte sie schlicht. Nachdem er bezahlt hatte, verabschiedete er sich höflich und verließ den Laden mit dem Buch in der Hand. Marie blieb allein zurück, doch irgendetwas in ihr sagte, dass dies nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie ihn gesehen hatte.
Als sie den leeren Laden betrachtete, dachte sie an den Moment, als er das Buch in seinen Händen gehalten hatte. Sie konnte nicht leugnen, dass dieser Fremde etwas in ihr berührt hatte, etwas, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.