Kapitel 1 - Constantin
Ich starrte auf das Blatt vor mir. Die Sonne ging langsam unter und tauchte mein Büro im zwanzigsten Stock in einem orangenen Ton. Ich mochte diese Dämmerung und dieses Lichtschauspiel, aber heute starrte ich auf das Blatt vor mir und die Unruhe wuchs in mir. Der leichte Duft, den ich vor einer Stunde das erste Mal gerochen hatte, war immer noch nicht verflogen. Es roch nach Mandelholz, Limette und Ringelblumen. Meine Lieblingsdüfte. Zuerst war ich irritiert gewesen, dass ausgerechnet die drei Düfte als Papierduft gedient haben sollen, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich wollte es trotzdem nicht wahrhaben und rief meinen Beta. Er war nur kurz im Büro, denn nachdem er mir bestätigte, dass er rein gar nichts am Papier roch, wurde meine schlimmste Befürchtung wahr.
Zuerst war es keine Befürchtung. Mein Herz schlug schneller und ich recherchierte sofort, wer die Dame vor mir war. Ich hatte ein großes Netzwerk und innerhalb einer halben Stunde wusste ich alles über sie. Wo sie aufgewachsen war, wie sie in die Stadt kam und vor allem, von wem sie abstammte.
Von Abtrünnigen. Ihr Großvater hatte vor Jahrzehnten Menschen ohne Grund angegriffen. Er wurde verbannt und mit ihm seine ganze Familie. Alle Familienmitglieder und dieses Urteil betraf auch die Nachfahren von ihm. Es gab Möglichkeiten für zukünftige Generationen ihren Namen wieder reinzuwaschen. Aber das bedeutete viel Arbeit und vor allem den Wunsch danach. Seine Nachfahren schienen weder für das Eine bereit gewesen zu sein oder hatten einfach kein Bedürfnis gehabt, sich den Rudel wieder anzuschließen oder sich ein Neues zu suchen. Sie hatten weiter unter den Menschen gelebt, wahrscheinlich ihren inneren Wolf unterdrückend. Ich seufzte, als ich über das Blatt Papier strich. Das Foto in der Ecke zeigte ein Portrait Bild von einer jungen Frau mit langen, welligen, schwarzen Haar. Ihre Augenfarbe konnte ich nicht erkennen, ich vermutete, sie waren grau. Der Ansatz einer schwarzen Anzugjacke war zu sehen und darunter trug sie eine weiße Bluse. Mehr war nicht zu erkennen. Mein Blick glitt zu dem Text auf dem Blatt. Ihr Lebenslauf war aussagekräftig und ohne Fehler. Für die Position, auf die sie sich beworben hat, reichten ihre Referenzen aus. Sie hatte zwar noch nie auf dieser Position gearbeitet, aber ihre Karriere bisher war durchaus beeindruckend gewesen. Oder wäre es. Denn auf dieser Position würde sie niemals arbeiten. Ich strich mir durch das Gesicht.
Sie machte mich durchaus neugierig, aber wenn ich sie einlud, dann hatte das weitreichende Konsequenzen. Für mein Leben, aber vor allem für ihres. Aber viel Mitleid durfte ich mit ihr nicht haben. Uns fehlte die Luna. Mein Beta musste sich um die Beta Aufgaben kümmern und hatte zusätzlich die Aufgaben der Luna an der Backe. Er delegierte zwar vieles an andere Rudelmitglieder, aber die Organisation der Aufgaben fraß trotzdem viel Zeit. Zeit, die er brauchte, um mit mir zusammen das Rudel zu führen, unsere Feinde im Auge zu behalten und das Imperium weiter auszubauen, dass mein Vater begonnen hatte. Unter meiner Führung fing es an zu blühen und ich wusste, dass ich einer der Mächtigsten in dieser Stadt war.
Mir war bewusst, dass ich eine Luna an meiner Seite brauchte. Aber wollte ich sie? Wollte sie überhaupt wieder in ein Rudel und dann gleich eine so hohe Position? Ich wusste, dass sie keine Ahnung von ihren zukünftigen Aufgaben hatte. Aber ihr Lebenslauf vor mir weckte in mir die Hoffnung, dass sie ehrgeizig genug war, sich diesen Aufgaben zu stellen und sie zu erlernen.
Ich hatte schon viele Wölfe gesehen, die ihre Gefährtin gefunden hatten. Sie waren liebestoll und hatten nur noch Ficken im Sinn. Vor allem die Anfangszeit war sehr intensiv. Nach ein paar Wochen, nach der Markierung, klang das Bedürfnis etwas ab und sie konnten sich wieder auf ihre Rudelaufgaben konzentrieren. Ich konnte mir jetzt eine Ablenkung dieser Art nicht leisten.
Aber mein Wolf in mir war sich sicher. Sie musste herkommen, er wollte wissen, ob ihre Wölfin schon erwacht war.
Ich hatte es schon fast aufgegeben, meine Gefährtin jemals zu finden. Ich war nun Mitte 20 und war davon ausgegangen, dass mich meine Luna schon finden würde. Aber es kam jahrelang niemand, so dass ich aufgegeben hatte. Entweder sie wohnte am anderen Ende der Welt oder war noch nicht volljährig. Denn erst, wenn Wölfe volljährig wurden, konnten sie ihren Gefährten riechen und suchen gehen. Meistens waren ihre Gefährten in der Nähe. Manchmal mussten sie ein paar Jahre warten, weil ihr Gegenpart noch nicht 18 war. Aber sieben Jahre waren eine lange Zeit. Und jetzt lag sie vor mir. Das Papier roch nach meinen Lieblingsdüften, was bedeutete, dass sie meine Gefährtin war. Eine Abtrünnige. Ich schüttelte den Kopf, wieso hatte ich nur so viel Pech?
Ich ging an meinen Computer und tippte eine Antwort an die Dame vor mir. Ein Vorstellungsgespräch nächste Woche. Sie würde sich sicher freuen, schließlich waren wir das größte Imperium dieser Stadt mit einem guten Ruf. Bis zu dem Termin hatte ich einiges vorzubereiten. Ich grinste bei der Vorstellung. Das Wort Vorstellungsgespräch würde für sie eine ganz neue Bedeutung bekommen.